Freitag, 20. Mai 2011

Kurt Tucholsky - Gruß zurück von mir

Kaspar Hauser - Gruss nach Vorn
(erschienen in der Weltbühne, 06.04.1926, Nr. 14, S. 555, und in "Mona Lisa")

Lieber Leser 1985 –!
Durch irgendeinen Zufall kramst du in der Bibliothek, findest die ›Mona Lisa‹, stutzt und liest. Guten Tag.
Ich bin sehr befangen: du hast einen Anzug an, dessen Mode von meinem damaligen sehr absticht, auch dein Gehirn trägst du ganz anders ... Ich setze dreimal an: jedesmal mit einem andern Thema, man muß doch in Berührung kommen ... Jedesmal muß ich es wieder aufgeben – wir verstehen einander gar nicht. Ich bin wohl zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf ein bißchen über den Zeitpegel ... da, ich wußte es: du lächelst mich aus.
Alles an mir erscheint dir altmodisch: meine Art, zu schreiben und meine Grammatik und meine Haltung ... ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht gerne. Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, und wie es gewesen ist ... nichts. Du lächelst, ohnmächtig hallt meine Stimme aus der Vergangenheit, und du weißt alles besser. Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem Zeitdorf bewegt? Genf? Shaw-Premiere? Thomas Mann? Das Fernsehen? Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für die Flugzeuge? Du bläst auf alles, und der Staub fliegt meterhoch, du kannst gar nichts erkennen vor lauter Staub.
Soll ich dir Schmeicheleien sagen? Ich kann es nicht. Selbstverständlich habt ihr die Frage: ›Völkerbund oder Paneuropa?‹ nicht gelöst; Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt ihr fürs tägliche Leben dreihundert nichtige Maschinen mehr als wir, und im übrigen seid ihr genau so dumm, genau so klug, genau so wie wir. Was von uns ist geblieben? Wühle nicht in deinem Gedächtnis nach, in dem, was du in der Schule gelernt hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war, dass es hinüberkam; was wirklich groß ist, davon ungefähr die Hälfte, und um die kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagvormittag ein bißchen, im Museum. Es ist so, wie wenn ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg reden sollte. »Ja? gehts gut? Bei der Belagerung Magdeburgs hat es wohl sehr gezogen ... ?« und was man so sagt.
Ich kann nicht einmal über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir führen, so nach der Melodie: wir beide verstehen uns schon, denn du bist ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber: auch du bist ein Zeitgenosse. Höchstens, wenn ich ›Bismarck‹ sage und du dich erst erinnern mußt, wer das gewesen ist, grinse ich schon heute vor mich hin: du kannst dir gar nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf dessen Unsterblichkeit sind ... Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt frühstücken gehen wollen.
Guten Tag. Dies Papier ist schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne unsrer Landrichter, da, jetzt zerbröckelt dir das Blatt unter den Fingern ... nun, es ist auch schon so alt. Geh mit Gott, oder wie ihr das Ding dann nennt. Wir haben uns wohl nicht allzuviel mitzuteilen, wir Mittelmäßigen. Wir sind zerlebt, unser Inhalt ist mit uns dahingegangen. Die Form war alles.
Ja, die Hand will ich dir noch geben. Wegen Anstand.
Und jetzt gehst du.
Aber das rufe ich dir noch nach: Besser seid ihr auch nicht als wir und die vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine –

Ich lasse den Text heute mal alleine und im Zusammenhang stehen... es ist nicht mal mehr 1985 sondern 2011, aber noch immer vermag Tucho mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. Er hat so recht, die Welt an sich, hat sich gar nicht so sehr verändert... oder?
Eigentlich müsste ich mich total freuen und Luftsprünge machen, denn Mr. Gecko hat mir heute ein wunderbares und viel zu frühes Geburtstagsgeschenk gemacht. Ich habe jetzt die gesammelte Weltbühne hier stehen von 1918-1933... alte Taschenbücher, der Reprint von 1978, so ausgeblichen und vergilbt, das man glauben könnte es wären die Originale.
Das ist so fantastisch... und ich freue mich auch, aber wie ich noch die Bücher in meine Datenbank einpflege und ein Plätzchen in meiner viel zu vollen Bibliothek suche,  da stolpere ich im Netz über ein altbekanntes Zitat:
"Ein kleiner dicker Berliner wollte mit einer Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten." 
Erich Kästner 
... und da packt mich der Erich am Nacken und der dicke Berliner rollt über mich hinweg und jetzt sitze ich hier und verdrücke ein paar Tränchen. Wie schrecklich wenn man in die Welt brüllt und keiner mag zuhören... und das war nicht nur damals so... Nein, viel hat sich nicht wirklich geändert von damals zu heute. Aber ich lese sie und denke mir, es müssten mehr sein die das tun. Mehr... denn in ihren Texten sind sie noch bei uns, der Tucholsky und der Kästner. Und jetzt gerade, in diesem Moment, da wünsche ich mir, das sie ewig leben.

Stille Grüße,

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